Samstag, 22. September 2012

In der Wiege der Genies

Große Architekten, geniale Mathematiker, herausragende Künstler ... alle sind sie mal zur Grundschule gegangen. Unter diesem Aspekt betrachte ich heute mal "das Kind", das seine ganze Genialität im zarten Alter von 6 Jahren zum Ausdruck bringt.

Jason ist es heute wieder mal, der im Kino so gern Popcorn isst.

Diese Woche ist Apfelwoche gewesen. Da wurden Äpfel betrachtet, geschmeckt, gefühlt, beschnuppert, verglichen, zerschnitten, untersucht, gezeichnet, besungen. Auch Jason verwirklichte diese Woche die ganze Bandbreite an Talenten, die in ihm schlummern.

Zum ersten Mal haben wir am Mittwoch unseren Deckfarbkasten erprobt. Um das Chaos in kleinen Schritten handhaben zu können, wurde damit erstmal gedruckt ... ein Fingerdruck sollte es werden. Ein Apfelumriss durfte nach Belieben mit Fingerabdrücken ausgetupft werden. Jedes Kind bekam einen kleinen Lappen und einen Schwamm, der nass gemacht und kräftig ausgedrückt wurde. So konnte man immer wieder den Finger nass machen, ihn in einem Farbnäpfchen drehen und dann in dem Apfelumriss abdrucken. "Laaangweilig!", hörte ich schon nach einigen Minuten, denn mit Geduld haben sie es halt nicht mehr so heutzutage, wo alles schnellschnell gehen soll.
Um die anstrengende Sache bald beenden zu können, begannen die ersten Kinder, die Farbe mit dem Finger aufs Papier zu wischen. Tja, ich hatte es ja nicht hören wollen (Lehrerin mit tauben Ohren!), sie wollten doch mit dem Pinsel malen! Einige wenige, die von der ruhigen Art, legten sorgfältig Abdruck an Abdruck, wählten echte Apfelfarben, fühlten sich dabei aber vielleicht doch nicht so recht wie echte Künstler.
Ganz anders Jason ... ihm ein sorgfältiges Drucken abzuverlangen wäre ein vergeblicher Kampf gewesen, der mich viel zu viel Kraft gekostet hätte.

Er bewältigte die gestellte Aufgabe in wenigen Minuten, und zwar wie folgt:

Er steckte alle zehn Finger gleichzeitig in den Schwamm, anschließend auch alle zehn Finger in viele Farbnäpfchen gleichzeitig, rührte, rührte ... dann kamen alle Finger gleichzeitig aufs Papier in den Apfelumriss ... wisch, wisch ... FERTIIIIG! Total vermanscht, aber er fand es schön. Das Bild sah positiv-verrückt aus. Ja, so will ich es mal bezeichnen, denn - wie gesagt - ein Kampf mit Klein-Jason ist aussichtslos. Daher definiere ich an solchen Stellen immer negativ als positiv und bleibe in einem Zustand von innerem Hahahaaa.
Kann ich jetzt mit dem Pinsel malen?, fragte Jason. Ich lasse ihn ... "Ich bin ein Künstler", stellt er lapidar fest, geht zum Waschbecken und holt sich Wasser in einem dicken Einmachglas, das ich ihm gegeben habe. Und nun folgt seine Vorstellung von Kunst. Sein erstes Pinselbild malt er schwarz, er malt sehr viel Schwarz, noch mehr Schwarz, ein bisschen Rot. Die Arme der Wesen sind Schwert-Arme, die Hände spitz und gefährlich. "Wer ist denn das?", frage ich ihn. "Star Wars", antwortet er stolz, "das da ist Dark Mall." (Keine Ahnung, bipt es den?) Was macht eine Lehrerin um ihre Kids zu verstehen? Na, es gibt doch Guckel ... dort finde ich Darth Maul - Vorsicht - beim Anklicken keinen Schreck bekommen! Ich gebe zu, dass ich mich erschrocken habe, wenn ich mich auch erinnern kann, dass ich in meiner pubertären Zeit auch solche Wesen mochte. Es waren für uns die gruseligen Abziehbildchen, die man in kleinen Überraschungstütchen kaufen konnte, in denen dann auch noch etwas Süßes zu finden war. Hmm ... war es Popcoooorn? Oder farbiger Puffreis?
So weit so gut ... Jasons Farbkasten sah dann halt auch aus wie bei einem echten Künstler, der Tisch auch, der Fußboden darunter auch. Die anschließende Reinigungsaktion presste mir den Schweiß aus der letzten Pore, trainierte meinen Geduldsfaden und erhöhte meinen nachunterrichtlichen Schokoladenkonsum.
Es gab nur ein Stückchen, denn nach dem Herausschieben des letzten Zappelmanns aus dem Klassenzimmer und dem Abschließen der Tür musste ich gleich über den Schulhof zur Bushaltestelle. Ich hatte Busaufsicht. Auf dem Rückweg kam ich an dem Kiesbeet vorbei, das vor der Kletterwand angelegt worden war um Herabstürze der Kinder zu mildern. Wer saß dort, ganz versunken in sein Tun? Es war Jason. Ich hätte ihn unbeachtet links liegen lassen können, aber ich bin neugierig auf das Innenleben von Kinderseelen. So hockte ich mich zu ihm, der dort saß und mit einem breiten Lineal die winzigen Kieselsteinchen in sein offenes Etui baggerte. "Was spielst du denn hier?", fragte ich ihn. Zwei braune Augen schauten mich erstaunt an: "Na, ich bagger doch ..." - "Warum hast du denn dein Etui mit auf den Schulhof genommen?", fragte ich. "Das hab' ich aussersehn mitbenommen," ist seine Antwort. "Und dann war die Tür zu. Da konnt' ich es nicht mehr reintun." - "Das darfst du aber nicht, Jason. Schau mal, wie deine Stifte jetzt aussehen." Alle Stifte sahen schon reichlich ramponiert aus, hatten Kratzer, einer war schon abgebrochen und dem Lineal fehlte auch schon ein Eckchen. Ganz ruhig und selbstbewusst erklärte er weiter: "Macht ja nix, ich hab ja viele Stifte. Ich hab' auch schon mal was verscheeenkt." - "Nee, sag bloß, du hast Stifte an andere Kinder verschenkt?" "Jaaaaaa, nee, auch Bücher." Mir schwante Fürchterliches. "Jaaa, wir haben das blaue Buch doch gar nicht gebraucht. Das hab' ich einem Kind auf dem Schulhof geschenkt. Jaaa, weiiil, das wollte ich nicht mehr rumtragen. Jaaa, weil wir das ja nicht gebraucht haaaben." Mir fiel nichts mehr ein, ich war regelrecht sprachlos und nahm mir vor, am Montag mal in seiner Tasche nachzuschauen, was denn da überhaupt noch drinnen sei.
Ein anderes Mal fragte ich Jason nach seinem Papa, der laut Aussage seiner Mutter in Afrika lebt. "Warst du denn schon mal bei deinem Papa in Afrika?", fragte ich ihn. "Neee," kam seine langgezogene und ruhig gesprochene Antwort, "ich kann da nicht aaatmen." - "Wieso das denn nicht?", wollte ich wissen. "Nee, die atmen da alle sooo", sagte er und demonstrierte das afrikanische Atmen, indem er den Mund weit öffnete und Luft heraus- und hereinließ. "Ich will aber so atmen", kam dann, er schloss den Mund und tat ein paar Atemzüge durch die Nase. "Jaaa, und das kann man da niiich." 
Also echt jetzt ... habe ich in der Schule nicht aufgepasst? Ist in Afrika die Luft so dünn, dass man Schnappatmung bekommt???

Dies war nur ein ganz winziger Ausschnitt aus einer Woche prallem Lehrerleben ... bin echt groggy und freue mich auf meinen allerprallesten Wochentag mit fünf Stunden kuriosem Kinderquatsch ... meinen Montag in Klasse 1.

Und nächstes Mal gibt's wieder was aus ULL-Rikes Strickwelt - versprochen!