Reichlich reinlich – peinlich!
Manchmal macht es Spaß, sich von
anderen Menschen abzusetzen, Distanz einzunehmen und aus dem Hintergrund
genaueste Beobachtungen anzustellen. Anschließend mit einem Füller in einem
schönen Tagebuch mit Worten zu zeichnen, was die Sinne aufgesogen haben. Ein
Kunstwerk zu gestalten mit den Farben aus dem Tuschkasten der eigenen
Wortsinnlichkeit.
Besonders geeignet dazu sind
Eindrücke, die man in entspanntem Ambiente einfangen kann.
So erging es mir in unserem letzten Urlaub im wunderschönen Norwegen, in dem ich mit meinem Angetrauten eine
Genusspause einlegte. Diese ereignete sich in einem großen Hotel im
weltberühmten Dorf Geiranger, gelegen am schönen Geirangerfjord.
Obwohl die Hochsaison längst
verstrichen war, zeigte sich das Hotel gut besucht. Der Parkplatz füllte sich
am späten Nachmittag bis zur Grenze seiner Kapazität, nicht nur mit PKW,
sondern auch mit Bussen, die ihren Menscheninhalt wie einen Honigstrom Richtung
Rezeption entließen.
Zuerst brachte man uns den Kaffee
an den Tisch. Das Kuchendessert – wie das kunstvoll gestaltete Leckerli genannt
wurde – ließ sehr lange auf sich warten, so dass wir - mit der Kaffeetasse in
der Hand – aufmerksam unsere Blicke schweifen ließen.
Ein altes Ehepaar, offenbar in
Begleitung seiner Reiseleiterin, die als solche an ihrer uniformähnlichen Kleidung
zu erkennen war, kam vom Eingang des großen Saales her direkt auf die Bar
zugesteuert, wo man seine Bestellung aufgeben konnte. Es erfolgte ein Machen-wir-es-so-oder-so-oder-doch-besser-so-Gespräch
mit der Reiseleiterin, die dem alten Paar ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte
und deren Fragen sehr freundlich und auffällig beschwichtigend zu beantworten
schien. Gestik und Mimik der Frau strahlten Sicherheit und viel Geduld aus, die
sie sich zweifellos durch lange Berufserfahrung angeeignet hatte.
Die Frau passte äußerlich wenig
zu dem alten Herrn. Sie war bedeutend fülliger, eine alte Dame zwar, die aber
doch um einiges jünger zu sein schien als ihr Partner.
Nach einem kurzen Wortwechsel des
Mannes mit dem Bedienungspersonal an der Bar suchte sich das Paar erst mal eine
Sitzgruppe aus. Schräg vor uns setzten sie sich hin, so dass wir zwangsläufig
hören mussten, was gesprochen wurde.
Schon als die zwei ihre
Sitzplätze einnahmen, offenbarten sich ihre stark voneinander abweichenden Persönlichkeitszüge. Während die Frau, fein
gekleidet in grau-schwarz gemusterter Bluse zu schwarzem Rock, zielgerichtet
auf den Sessel ihrer Wahl zusteuerte, machte der hagere Mann einen erheblich
nervöseren Eindruck. Ja, ich möchte fast sagen, er war auf gewisse Weise
hyperaktiv. Zuerst setzte er sich im rechten Winkel zu seiner Partnerin auf ein
Sofa, dann stand er wieder auf, setzte sich erneut auf dasselbe Sofa, dieses
Mal an einer anderen Stelle. Dort ruckelte er unruhig herum, bis er sich
umständlich wieder erhob, zur Bar ging und dort etwas zu trinken bestellte.
Danach rief er seiner Frau etwas
zu, quer durch den Raum. Er schien wissen zu wollen, was sie denn trinken
möchte. Sie rief ihm ihren Wunsch von ihrem Sessel aus zu, doch schien er es
auf die Distanz nicht zu verstehen, was man an der hinter die Ohrmuschel
gelegten Hand erkennen konnte. Ein ärgerliches „Hvaaaaaa?“ verstärkte diesen
Eindruck. Dann folgte in beachtlich forderndem Ton: „Du må komme hit!“ Du musst
schon mal herkommen. Sofort erhob sich die Frau mühsam aus ihrem Sessel und
bewegte sich mit steifen Schritten zu ihm hin, wo sie dann ihren Wunsch
äußerte.
Nun hätte man erwarten können,
dass sich beide wieder setzen und auf ihr Getränk warten würden. Aber nein, der
Mann verwickelte die Angestellte hinter der Theke noch in ein Gespräch, das
diese von ihrer Arbeit abhielt. Nach einer Weile bequemten sich dann beide
wieder in Richtung der von ihnen bereits vorher gewählten Sitzgruppe.
Nun aber ging es erst richtig los
mit dem hyperaktiven Gebaren.
Wir hatten inzwischen unseren
Kuchen bekommen, was uns aber nicht davon abhielt, den Fortgang der vor unseren
Augen zelebrierten Posse weiterhin zu verfolgen.
Der alte Mann zog ein gefaltetes
Stofftaschentuch aus seiner linken Hosentasche, hielt es an einer Seite fest
und ließ es so, längs noch halb gefaltet, auseinanderfallen. Dann bohrte er mit dem linken
Zeigefinger – nun doppelt taschentuchumhüllt – sein linkes Nasenloch sauber.
Mit einer vorbildlichen Gründlichkeit! Dann kam das linke Ohr dran, ebenso gründlich.
Dann folgte das rechte Nasenloch. Dann das rechte Ohr.
In mir wallte schon ein leises
Ekelgefühl auf. Ohrschmalz im Nasenloch? Popel im Ohr? Igitt!
Doch war der reinliche Herr
keineswegs fertig! Er faltete das Taschentuch vollends auseinander, breitete es
umständlich in seiner kompletten Größe aus, griff es dann mit beiden Händen und
wischte sich damit – fast zwanghaft gründlich – die Stirn ab, dann folgte das
Auswischen der Augenpartie.
Mein Ekelpegel stieg wie der
Hammer beim Haut-den-Lukas. Stirnschweiß auf Augenlid! Was nun noch???
Die Gläser mit den Getränken
wurden gebracht, das Taschentuch aber keinesfalls in die Hosentasche gesteckt.
Ein kurzes Dankeschön folgte. Die Frau saß ungerührt in ihrem Sessel, nahm ihr
Glas in die Hand und begann zu trinken.
Die junge Angestellte ging zurück
in den Barbereich.
Der hyperaktive Greis aber
wedelte mit seinem Taschentuch Richtung Bar und rief eine Bemerkung, in der das
Wort Unterschrift vorkam. Er wollte offensichtlich die Quittung unterschreiben,
um die Kosten – so wie es in Hotels üblich ist – bei Abreise mit
der Schlussabrechnung zusammen auszugleichen.
Die Bedienung – eine junge Frau
im Alter von Mitte bis Ende zwanzig – brachte eine Schreibunterlage, einen
Stift dazu, hielt dem Gast beides hin und ließ ihn unterschreiben.
Der Alte gab sich nicht zufrieden
und verwickelte sie erneut in ein Gespräch.
„Wo kommen Sie eigentlich her?“ –
„Aus Finnland.“
„Aha … und wo wohnen Sie hier in
Norwegen?“ - Eine freundliche Bedienung! „In Volda.“
„So so. Und wie lange arbeiten
Sie schon hier im Hotel?“ – Langmütig: „Seit ich zwanzig bin …“
Die Ehefrau drückte weiterhin ihr
Gewicht in den Sessel. Stoische Ruhe, aber nicht geistige Abwesenheit strahlte
sie aus. Kein vielsagender Blick mit verdrehten Augen, nichts.
Ende der Geschichte vom reichlich
reinlichen Greis? Aber nein!
Noch während des Gesprächs mit
der jungen Frau begann das Nesteln mit dem Taschentuch von vorn. Aufwärmphase
Nase, Bohren in den Ohren, Wischen dazwischen … das Ritual in erster
Wiederholung. Dann wurde das Taschentuch sorgsam wieder zusammengefaltet und in
die Hosentasche gesteckt.
Die Angestellte ging zurück zur Bar und holte ein
Feuerzeug, mit dem sie die zwei Teelichter anzündete, die vor dem Paar auf dem
Tisch standen. Dabei murmelte sie etwas von Stimmung
und schien froh zu sein, dass sie sich nun einer Aufgabe zuwenden konnte, die
rechtfertigte, dass sie sich von dem Sitzplatz des alten Paares entfernen
durfte.
Wenn man annimmt, nun sei der
Kontakt endlich abgebrochen … weit gefehlt!
Die junge Frau ging von Tisch zu
Tisch, begab sich immer weiter fort, kam zu einem sehr weit entfernt stehenden
Wandschrank, in dessen offenem Bereich auch ein paar Teelichter standen. Ich
fühlte mit ihr, atmete innerlich auf. Nun
hat sie ihre Ruhe, dachte ich. Sie zündete das erste Teelicht an, doch –
was für ein Pech – beim nächsten versagte ihr Feuerzeug. Meine innere Stimme
seufzte laut auf. Nein! Bitte nicht!
Doch! Der alte Nervtöter schien der Bediensteten mit allen ihm noch
dienenden Sinnen gefolgt zu sein, denn er machte plötzlich Anstalten, sich zu
erheben, wobei er umständlich in seinen Hosentaschen kramte und quer durch die
große Lounge fragte, ob er ihr helfen könne.
Wie muss es in der jungen Frau in
diesem Moment ausgesehen haben, als sie realisierte, dass sie die Bande zu dem
lästigen Gast noch immer nicht hatte lösen können?
„Nein, nein, das ist nicht nötig“,
rief sie. Höflich zwar, doch konnte ein feinfühliger Mensch sehr wohl
wahrnehmen, was sie in dem Moment dachte und noch viel lieber gesagt hätte. „Wir
haben noch mehr Feuerzeuge“, ergänzte sie schnell und – schwupps – war sie um die Ecke gesprungen
und im Speisesaal verschwunden. Bald darauf kam sie mit einem anderen Feuerzeug
zurück und setzte ihre Aufgabe fort, bis alle Kerzen in dem riesigen Raum
angezündet waren.
Inzwischen hatte der alte Schwerenöter
Nase, Ohren, Stirn und Augen zum dritten Mal traktiert, als die Angestellte zur
Bar zurückkehrte. Auf ihrem Weg dorthin wurde sie erneut angesprochen: „Kann
ich wohl bitte die Quittung unterschreiben?“, fragte die Nervensäge.
Die alte Dame neben ihm saß in ihrem
Sessel, nicht geistesabwesend, aber in stoischer Ruhe, während die Angestellte –
vielleicht einen kleinen, kaum spürbaren Deut weniger freundlich – antwortete: „Aber
Sie haben doch eben schon unterschrieben“, wobei sie gleichzeitig erklärte, sie
habe jetzt Feierabend, aber wenn er noch weitere Wünsche habe, solle er sich
doch an ihre Kollegin wenden, die gleich ihren Dienst beginne.
„Ich will doch aber nur
unterschreiben“, nervte der Sturkopf noch immer. „Aber das brauchen Sie nicht“,
wiederholte die junge Frau. „Ich habe Ihnen die Quittung doch hingehalten und
Sie haben bereits unterschrieben.“
Die Ehefrau bewegte kurz ihre
beschwichtigende Hand Richtung Ehemann, zog sie aber gleich wieder zurück, als
die Angestellte sich lächelnd in den Hintergrundbereich der Bar zurückzog, wohl
um ihre Dienstkleidung abzulegen und erleichtert nach Hause zu fahren. Nach Volda, wie wir
ja dank der neugierigen Fragerei des alten Schwerenöters bereits wissen.
Dieser wiederum beobachtete sehr
genau, was im Barbereich vor sich ging, während zwischenzeitlich die
Reiseleiterin erneut aufkreuzte und mit viel Palaver das alte Paar beruhigte,
es könne es sich gern noch länger gemütlich machen und sein Getränk in Ruhe
austrinken.
Als sie sich wieder entfernt hatte, begann der olle Bumskopp erneut
Ausschau nach potenziellen Opfern zu halten. Da! Ein neuer Angestellter hatte
seinen Arbeitsbereich hinter der Theke eingenommen. Der Arme … er tat mir jetzt
schon leid.
Mit dem inzwischen wieder
entfalteten Taschentuch die üblichen Rituale bzw. Zwangshandlungen an Nase,
Ohren, Stirn und Augen exerzierend, rief der Tattergreis etwas für mich
Unverständliches Richtung Bar.
Der Gast ist nun mal König, dachte ich, davon ausgehend, dass dies sicher
eine –zig mal eingehämmerte Devise für alle Angestellten im Dienstleistungsbereich
von Hotels und Gaststätten sein dürfte. So setzte sich denn auch der junge Mann
in Bewegung Richtung Sitzgruppe Gammalnorske, mit überzeugend ehrlichem Lächeln
auf den Lippen. Auch er hatte nicht verstanden, was der alte Mann gerufen
hatte.
„Hva sa du?“ – „Was sagten Sie?“,
fragte er also den ollen Sturkopp, der erneut seine Litanei herunterzubeten
begann:
„Woher kommen Sie eigentlich?“ - „Aus
Måløy.“
„So, aha. Und wohnen Sie dort?“ –
Wohlerzogen: „Ja, mit meiner Familie.“
„Hm hm … und wie lange arbeiten
Sie schon in diesem Hotel?“ …
Da wurde dieses Ritual plötzlich
unterbrochen von einer weiteren jungen Angestellten, die man für eine Inderin
oder eine Pakistanerin hätte halten können. Jetzt
aber …, dachte ich und verspürte ein inneres Grinsen. Doch nein, bevor der
Mann wieder loslegen konnte, noch immer mit seinem Taschentuch herumdokternd, sagte
die exotische Schöne schmunzelnd: „Ah, ich habe schon von Ihnen gehört. Von
meiner Kollegin.“
Keine Ahnung, ob sie mit dieser Bemerkung
die Kette immer gleicher Fragen unterbrechen konnte.
Ich jedenfalls dachte nur: Wir sind fertig mit dem Kaffeetrinken.
Und sagte zu meinem Göttergatten: „Komm, lass uns schnell gehen, bevor er uns
als Opfer entdeckt.“
Der Gute hatte keine Einwände.
Einmütig strebten wir in weitem Bogen um das alte Paar herum Richtung Ausgang.
Das Personal hatte offenbar bereits wieder seinen Platz hinter der Bar
eingenommen, als ich noch im linken Blickwinkel eine unmissverständliche Geste
erheischte. Der Zeigefinger einer abgemagerten hexenartigen Greisenhand bewegte sich in
Richtung Bar, abwechselnd gekrümmt und gestreckt und forderte ohne Unterlass: „He,
kommen Sie doch mal her!“
Die Blicke hinter der Bar
sprachen Bände und lösten bei mir in der anschließenden Nacht empathische Träume
aus. Ein dürres Männlein saß darin auf einem morschen Sofa und interviewte mich
mit zitterndem Stimmlein:
„Wo kommen Sie denn her?“ – „Aus Deutschland.“
„Ah,
so … und wo wohnen Sie hier?“ – „Am Nordfjord.“
„Ach, interessant, und arbeiten Sie
hier in Norwegen?“ – „NEIN!!!“, schrie ich den Wicht an.
„ICH MACHE HIER
URLAUB!!! UND DEN HABE ICH JETZT AUCH DRINGEND NÖTIG!“
© UNik 09-2015