Dienstag, 29. September 2015

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben - eine Urlaubsanekdote

Reichlich reinlich – peinlich!

Manchmal macht es Spaß, sich von anderen Menschen abzusetzen, Distanz einzunehmen und aus dem Hintergrund genaueste Beobachtungen anzustellen. Anschließend mit einem Füller in einem schönen Tagebuch mit Worten zu zeichnen, was die Sinne aufgesogen haben. Ein Kunstwerk zu gestalten mit den Farben aus dem Tuschkasten der eigenen Wortsinnlichkeit.

Besonders geeignet dazu sind Eindrücke, die man in entspanntem Ambiente einfangen kann.

So erging es mir in unserem letzten Urlaub im wunderschönen Norwegen, in dem ich mit meinem Angetrauten eine Genusspause einlegte. Diese ereignete sich in einem großen Hotel im weltberühmten Dorf Geiranger, gelegen am schönen Geirangerfjord.

Obwohl die Hochsaison längst verstrichen war, zeigte sich das Hotel gut besucht. Der Parkplatz füllte sich am späten Nachmittag bis zur Grenze seiner Kapazität, nicht nur mit PKW, sondern auch mit Bussen, die ihren Menscheninhalt wie einen Honigstrom Richtung Rezeption entließen.

Es war Spätnachmittag. Wir betraten den großen Loungebereich des Hotels, bestellten an der Bar Kaffee und Kuchen und suchten uns eine der vielen Sitzgruppen aus, die locker im Raum verteilt waren. Sehr geschmackvoll wirkten sie, jede war aus einer einladenden Runde von Sesseln und Sofas in behaglichen Farben und traditionellen Mustern zusammengestellt, hier und da gesellte sich auch eine gepolsterte Sitzbank dazu, wie man sie häufig in englischen Herrenhäusern vor dem Kamin sehen kann. Hier konnte man nach einem ereignisreichen Tag herrlich die Seele baumeln lassen.

Zuerst brachte man uns den Kaffee an den Tisch. Das Kuchendessert – wie das kunstvoll gestaltete Leckerli genannt wurde – ließ sehr lange auf sich warten, so dass wir - mit der Kaffeetasse in der Hand – aufmerksam unsere Blicke schweifen ließen.

Ein altes Ehepaar, offenbar in Begleitung seiner Reiseleiterin, die als solche an ihrer uniformähnlichen Kleidung zu erkennen war, kam vom Eingang des großen Saales her direkt auf die Bar zugesteuert, wo man seine Bestellung aufgeben konnte. Es erfolgte ein Machen-wir-es-so-oder-so-oder-doch-besser-so-Gespräch mit der Reiseleiterin, die dem alten Paar ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte und deren Fragen sehr freundlich und auffällig beschwichtigend zu beantworten schien. Gestik und Mimik der Frau strahlten Sicherheit und viel Geduld aus, die sie sich zweifellos durch lange Berufserfahrung angeeignet hatte.

Das Ehepaar – so war es akustisch zu vernehmen – war offenbar in Norwegen beheimatet. Der Mann – nun gut, in jener Phase meiner Beobachtung hätte ich ihn noch als Herr bezeichnet – sah aus wie Ende 80 und seine Haltung ließ ihn schon recht greisenhaft wirken. Er ging etwas gekrümmt, seine Anzughose schlackerte um seine dünnen Beine, seine Gesamterscheinung war die einer hageren, keineswegs aber gebrechlichen Gestalt. Sein Blick erinnerte uns an den des Prinzen Philipp, den Mann der englischen Königin. Mit seinen wachen Augen bemächtigte er sich auf unangenehme Weise seiner Umgebung. So empfand ich es schon in diesem Moment, obwohl ich nicht die geringste Ahnung davon hatte, was bald folgen würde.

Die Frau passte äußerlich wenig zu dem alten Herrn. Sie war bedeutend fülliger, eine alte Dame zwar, die aber doch um einiges jünger zu sein schien als ihr Partner.

Nach einem kurzen Wortwechsel des Mannes mit dem Bedienungspersonal an der Bar suchte sich das Paar erst mal eine Sitzgruppe aus. Schräg vor uns setzten sie sich hin, so dass wir zwangsläufig hören mussten, was gesprochen wurde.

Schon als die zwei ihre Sitzplätze einnahmen, offenbarten sich ihre stark voneinander abweichenden  Persönlichkeitszüge. Während die Frau, fein gekleidet in grau-schwarz gemusterter Bluse zu schwarzem Rock, zielgerichtet auf den Sessel ihrer Wahl zusteuerte, machte der hagere Mann einen erheblich nervöseren Eindruck. Ja, ich möchte fast sagen, er war auf gewisse Weise hyperaktiv. Zuerst setzte er sich im rechten Winkel zu seiner Partnerin auf ein Sofa, dann stand er wieder auf, setzte sich erneut auf dasselbe Sofa, dieses Mal an einer anderen Stelle. Dort ruckelte er unruhig herum, bis er sich umständlich wieder erhob, zur Bar ging und dort etwas zu trinken bestellte.

Danach rief er seiner Frau etwas zu, quer durch den Raum. Er schien wissen zu wollen, was sie denn trinken möchte. Sie rief ihm ihren Wunsch von ihrem Sessel aus zu, doch schien er es auf die Distanz nicht zu verstehen, was man an der hinter die Ohrmuschel gelegten Hand erkennen konnte. Ein ärgerliches „Hvaaaaaa?“ verstärkte diesen Eindruck. Dann folgte in beachtlich forderndem Ton: „Du må komme hit!“ Du musst schon mal herkommen. Sofort erhob sich die Frau mühsam aus ihrem Sessel und bewegte sich mit steifen Schritten zu ihm hin, wo sie dann ihren Wunsch äußerte.

Nun hätte man erwarten können, dass sich beide wieder setzen und auf ihr Getränk warten würden. Aber nein, der Mann verwickelte die Angestellte hinter der Theke noch in ein Gespräch, das diese von ihrer Arbeit abhielt. Nach einer Weile bequemten sich dann beide wieder in Richtung der von ihnen bereits vorher gewählten Sitzgruppe.

Nun aber ging es erst richtig los mit dem hyperaktiven Gebaren.

Wir hatten inzwischen unseren Kuchen bekommen, was uns aber nicht davon abhielt, den Fortgang der vor unseren Augen zelebrierten Posse weiterhin zu verfolgen.

Der alte Mann zog ein gefaltetes Stofftaschentuch aus seiner linken Hosentasche, hielt es an einer Seite fest und ließ es so, längs noch halb gefaltet, auseinanderfallen. Dann bohrte er mit dem linken Zeigefinger – nun doppelt taschentuchumhüllt – sein linkes Nasenloch sauber. Mit einer vorbildlichen Gründlichkeit! Dann kam das linke Ohr dran, ebenso gründlich. Dann folgte das rechte Nasenloch. Dann das rechte Ohr.

In mir wallte schon ein leises Ekelgefühl auf. Ohrschmalz im Nasenloch? Popel im Ohr? Igitt!

Doch war der reinliche Herr keineswegs fertig! Er faltete das Taschentuch vollends auseinander, breitete es umständlich in seiner kompletten Größe aus, griff es dann mit beiden Händen und wischte sich damit – fast zwanghaft gründlich – die Stirn ab, dann folgte das Auswischen der Augenpartie.

Mein Ekelpegel stieg wie der Hammer beim Haut-den-Lukas. Stirnschweiß auf Augenlid! Was nun noch???

Die Gläser mit den Getränken wurden gebracht, das Taschentuch aber keinesfalls in die Hosentasche gesteckt. Ein kurzes Dankeschön folgte. Die Frau saß ungerührt in ihrem Sessel, nahm ihr Glas in die Hand und begann zu trinken.

Die junge Angestellte ging zurück in den Barbereich.

Der hyperaktive Greis aber wedelte mit seinem Taschentuch Richtung Bar und rief eine Bemerkung, in der das Wort Unterschrift vorkam. Er wollte offensichtlich die Quittung unterschreiben, um die Kosten – so wie es in Hotels üblich ist – bei Abreise mit der Schlussabrechnung zusammen auszugleichen.

Die Bedienung – eine junge Frau im Alter von Mitte bis Ende zwanzig – brachte eine Schreibunterlage, einen Stift dazu, hielt dem Gast beides hin und ließ ihn unterschreiben.

Der Alte gab sich nicht zufrieden und verwickelte sie erneut in ein Gespräch.

„Wo kommen Sie eigentlich her?“ – „Aus Finnland.“
„Aha … und wo wohnen Sie hier in Norwegen?“ - Eine freundliche Bedienung! „In Volda.“
„So so. Und wie lange arbeiten Sie schon hier im Hotel?“ – Langmütig: „Seit ich zwanzig bin …“

Die Ehefrau drückte weiterhin ihr Gewicht in den Sessel. Stoische Ruhe, aber nicht geistige Abwesenheit strahlte sie aus. Kein vielsagender Blick mit verdrehten Augen, nichts.

Ende der Geschichte vom reichlich reinlichen Greis? Aber nein!

Noch während des Gesprächs mit der jungen Frau begann das Nesteln mit dem Taschentuch von vorn. Aufwärmphase Nase, Bohren in den Ohren, Wischen dazwischen … das Ritual in erster Wiederholung. Dann wurde das Taschentuch sorgsam wieder zusammengefaltet und in die Hosentasche gesteckt. 

Die Angestellte ging zurück zur Bar und holte ein Feuerzeug, mit dem sie die zwei Teelichter anzündete, die vor dem Paar auf dem Tisch standen. Dabei murmelte sie etwas von Stimmung und schien froh zu sein, dass sie sich nun einer Aufgabe zuwenden konnte, die rechtfertigte, dass sie sich von dem Sitzplatz des alten Paares entfernen durfte.

Wenn man annimmt, nun sei der Kontakt endlich abgebrochen … weit gefehlt!

Die junge Frau ging von Tisch zu Tisch, begab sich immer weiter fort, kam zu einem sehr weit entfernt stehenden Wandschrank, in dessen offenem Bereich auch ein paar Teelichter standen. Ich fühlte mit ihr, atmete innerlich auf. Nun hat sie ihre Ruhe, dachte ich. Sie zündete das erste Teelicht an, doch – was für ein Pech – beim nächsten versagte ihr Feuerzeug. Meine innere Stimme seufzte laut auf. Nein! Bitte nicht!

Doch! Der alte Nervtöter schien der Bediensteten mit allen ihm noch dienenden Sinnen gefolgt zu sein, denn er machte plötzlich Anstalten, sich zu erheben, wobei er umständlich in seinen Hosentaschen kramte und quer durch die große Lounge fragte, ob er ihr helfen könne.

Wie muss es in der jungen Frau in diesem Moment ausgesehen haben, als sie realisierte, dass sie die Bande zu dem lästigen Gast noch immer nicht hatte lösen können?

„Nein, nein, das ist nicht nötig“, rief sie. Höflich zwar, doch konnte ein feinfühliger Mensch sehr wohl wahrnehmen, was sie in dem Moment dachte und noch viel lieber gesagt hätte. „Wir haben noch mehr Feuerzeuge“, ergänzte sie schnell und – schwupps – war sie um die Ecke gesprungen und im Speisesaal verschwunden. Bald darauf kam sie mit einem anderen Feuerzeug zurück und setzte ihre Aufgabe fort, bis alle Kerzen in dem riesigen Raum angezündet waren.

Inzwischen hatte der alte Schwerenöter Nase, Ohren, Stirn und Augen zum dritten Mal traktiert, als die Angestellte zur Bar zurückkehrte. Auf ihrem Weg dorthin wurde sie erneut angesprochen: „Kann ich wohl bitte die Quittung unterschreiben?“, fragte die Nervensäge.

Die alte Dame neben ihm saß in ihrem Sessel, nicht geistesabwesend, aber in stoischer Ruhe, während die Angestellte – vielleicht einen kleinen, kaum spürbaren Deut weniger freundlich – antwortete: „Aber Sie haben doch eben schon unterschrieben“, wobei sie gleichzeitig erklärte, sie habe jetzt Feierabend, aber wenn er noch weitere Wünsche habe, solle er sich doch an ihre Kollegin wenden, die gleich ihren Dienst beginne.

„Ich will doch aber nur unterschreiben“, nervte der Sturkopf noch immer. „Aber das brauchen Sie nicht“, wiederholte die junge Frau. „Ich habe Ihnen die Quittung doch hingehalten und Sie haben bereits unterschrieben.“

Die Ehefrau bewegte kurz ihre beschwichtigende Hand Richtung Ehemann, zog sie aber gleich wieder zurück, als die Angestellte sich lächelnd in den Hintergrundbereich der Bar zurückzog, wohl um ihre Dienstkleidung abzulegen und erleichtert nach Hause zu fahren. Nach Volda, wie wir ja dank der neugierigen Fragerei des alten Schwerenöters bereits wissen.

Dieser wiederum beobachtete sehr genau, was im Barbereich vor sich ging, während zwischenzeitlich die Reiseleiterin erneut aufkreuzte und mit viel Palaver das alte Paar beruhigte, es könne es sich gern noch länger gemütlich machen und sein Getränk in Ruhe austrinken. 

Als sie sich wieder entfernt hatte, begann der olle Bumskopp erneut Ausschau nach potenziellen Opfern zu halten. Da! Ein neuer Angestellter hatte seinen Arbeitsbereich hinter der Theke eingenommen. Der Arme … er tat mir jetzt schon leid.

Mit dem inzwischen wieder entfalteten Taschentuch die üblichen Rituale bzw. Zwangshandlungen an Nase, Ohren, Stirn und Augen exerzierend, rief der Tattergreis etwas für mich Unverständliches Richtung Bar.

Der Gast ist nun mal König, dachte ich, davon ausgehend, dass dies sicher eine –zig mal eingehämmerte Devise für alle Angestellten im Dienstleistungsbereich von Hotels und Gaststätten sein dürfte. So setzte sich denn auch der junge Mann in Bewegung Richtung Sitzgruppe Gammalnorske, mit überzeugend ehrlichem Lächeln auf den Lippen. Auch er hatte nicht verstanden, was der alte Mann gerufen hatte.

„Hva sa du?“ – „Was sagten Sie?“, fragte er also den ollen Sturkopp, der erneut seine Litanei herunterzubeten begann:

„Woher kommen Sie eigentlich?“ - „Aus Måløy.“
„So, aha. Und wohnen Sie dort?“ – Wohlerzogen: „Ja, mit meiner Familie.“  
„Hm hm … und wie lange arbeiten Sie schon in diesem Hotel?“ …

Da wurde dieses Ritual plötzlich unterbrochen von einer weiteren jungen Angestellten, die man für eine Inderin oder eine Pakistanerin hätte halten können. Jetzt aber …, dachte ich und verspürte ein inneres Grinsen. Doch nein, bevor der Mann wieder loslegen konnte, noch immer mit seinem Taschentuch herumdokternd, sagte die exotische Schöne schmunzelnd: „Ah, ich habe schon von Ihnen gehört. Von meiner Kollegin.“

Keine Ahnung, ob sie mit dieser Bemerkung die Kette immer gleicher Fragen unterbrechen konnte. 

Ich jedenfalls dachte nur: Wir sind fertig mit dem Kaffeetrinken. Und sagte zu meinem Göttergatten: „Komm, lass uns schnell gehen, bevor er uns als Opfer entdeckt.“

Der Gute hatte keine Einwände. Einmütig strebten wir in weitem Bogen um das alte Paar herum Richtung Ausgang. Das Personal hatte offenbar bereits wieder seinen Platz hinter der Bar eingenommen, als ich noch im linken Blickwinkel eine unmissverständliche Geste erheischte. Der Zeigefinger einer abgemagerten hexenartigen Greisenhand bewegte sich in Richtung Bar, abwechselnd gekrümmt und gestreckt und forderte ohne Unterlass: „He, kommen Sie doch mal her!“

Die Blicke hinter der Bar sprachen Bände und lösten bei mir in der anschließenden Nacht empathische Träume aus. Ein dürres Männlein saß darin auf einem morschen Sofa und interviewte mich mit zitterndem Stimmlein: 

„Wo kommen Sie denn her?“ – „Aus Deutschland.“
„Ah, so … und wo wohnen Sie hier?“ – „Am Nordfjord.“
„Ach, interessant, und arbeiten Sie hier in Norwegen?“ – „NEIN!!!“, schrie ich den Wicht an. 
„ICH MACHE HIER URLAUB!!! UND DEN HABE ICH JETZT AUCH DRINGEND NÖTIG!“

© UNik 09-2015